Chaos chaos

Vielfältiges Wechseltierchen

Wir alle kennen Chaos. Ob es gerade auf dem Schreibtisch oder sogar in der ganzen Wohnung, in den wichtigen Unterlagen oder einfach nur im eigenen Hirn herrscht, Chaos kann überall auftauchen und breitet sich dann wundersamerweise, ganz wie von selbst immer weiter aus. Nicht umsonst besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dass die Entropie – also das Maß für die Unordnung im Universum – einem Maximum entgegenstrebt. Naja – so ganz sauber lassen sich Überlegungen zur Entropie jetzt nicht auf unsere Schreibtische übertragen, aber wir sind hier ja nicht in einem Physikpodcast, sondern bei einem Mikrobenpodcast. Deshalb hat das Chaos, von dem wir heute sprechen wollen, wenn überhaupt nur wenig mit dem Zustand einer vernachlässigten Sockenschublade zu tun.

Stattdessen soll es heute um Amöben gehen und wir starten mit derjenigen Amöbe, die den wunderbaren Speziesnamen Chaos chaos trägt. Zum ersten Mal beschrieben wurde diese Mikrobe im Jahre 1758 durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné. Wer in der Biologie ein bisschen bewandert ist, dem ist dieser Name sicherlich ein Begriff. Carl von Linné ist nämlich niemand geringeres als der Begründer der binären Nomenklatur, also der systematischen Benennung und Einteilung von Lebewesen in Gattungen und Arten. Der Organismus, den Linné damals beschrieb, gilt heute als historische Typusart der Gattung Chaos – also jene Art, an der der Gattungsname formell festgemacht wurde. Welche Amöbe Linné damals tatsächlich unter dem Mikroskop sah, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. Der Name Chaos chaos ist jedenfalls geblieben – weniger als feste Art, sondern eher als historisches Relikt, das den Ursprung der ganzen Gattung markiert. 

Bei der Gattung Chaos handelt es sich im Gegensatz zu vielen der Mikroben, die ich bisher im Podcast besprochen habe, nicht um einen Prokaryoten, sondern einen Eukaryoten. Diese Gruppen sind zwei unterschiedliche Domänen des Lebens, die sich vom sogenannten Last Universal Common Ancestor (LUCA), also dem Urvorfahren alles heute auf der Erde existierenden Lebens aus entwickelt haben. Der größte Unterschied zwischen Prokaryoten und Eukaryoten ist die Anwesenheit eines Zellkerns also einer Organelle, die die Erbinformation des entsprechenden Organismus einschließt. Da die Amöben wie schon erwähnt zu den Eukaryoten gehören, besitzen sie in der Regel einen Zellkern. In vielen Fällen, wie zum Beispiel in der Gattung Chaos reicht dieser eine jedoch nicht. Stattdessen sind es manchmal Dutzende bis hin zu über hundert –, weshalb man sie multinukleär nennt. Die Anzahl der Zellkerne ist auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den bekannten Amöbengattungen Amoeba und Chaos. Während Chaos-Arten viele Zellkerne enthalten, besitzen Amoeba-Arten in der Regel nur einen und sind somit uninukleär. Amoeboide Lebensformen gibt es übrigens in nahezu allen größeren Linien des Lebens, und dort haben sie sich vermutlich mehrfach unabhängig voneinander entwickelt. Das erklärt, warum nicht alle sogenannten Amöben eng miteinander verwandt sind – auch wenn sie sich äußerlich ähneln.

Wir wollen aber weiter bei der vielkernigen Gattung Chaos bleiben und eine Frage beantworten, die sich manch einer vielleicht schon seit Beginn der Folge fragt. Wie kommt man dazu, einem Mikroorganismus den Namen Chaos zu geben?

Das liegt vermutlich an der ungewöhnlichen Fortbewegungsart, die Amöben aufweisen. Während viele Bakterien und andere Mikroorganismen eine festgelegte Form haben, ist das bei Amöben nicht der Fall. Anders als Bakterien, die meist eine feste Form haben – etwa rund, stäbchen- oder kommaförmig –, besitzen Amöben keine konstante Gestalt. Sie erscheinen als formlose, veränderliche Blobs, die sich mithilfe von Ausstülpungen bewegen, den sogenannten Pseudopodien oder Scheinfüßchen. Diese dienen nicht nur der Fortbewegung, sondern auch dem Beutefang. Die Bewegung wirkt auf Beobachter oft ungerichtet oder „chaotisch“ – daher vermutlich der Name. Besonders in der frühen Zeit der Beobachtung Mikroorganismen hat gerade diese Formlosigkeit der Amöben dazu geführt, dass unterschiedliche Formen ein und derselben Amöbe als unterschiedliche Arten definiert wurden. Erst die genetische Analyse dieser Organismen hat dann eine eindeutige Zuordnung ermöglicht.

Der Prozess der Verformung des gesamten Organismus, der übrigens auch zum Beinamen „Wechseltierchen“ geführt hat, wird auch in der Nahrungsbeschaffung durch die Amöben eingesetzt. Sie ernähren sich vorzugsweise von Bakterien, aber auch von Mikroalgen wie beispielsweise den sogenannten Diatomeen oder Kieselalgen. Um ihre Nahrung aufzunehmen, umschließen die Amöben mit ihren formbaren Leibern ihre Beute, um sie dann in einem Phagozytose genannten Prozess in sich aufzunehmen und dort zu verdauen. Ein Video von einer Amöbe beim Essen verlinke ich euch mal in der Linksammlung. Wen das interessiert, kann sich das gerne mal anschauen.

In der sehr vielfältigen Welt der Amöben gibt es sogar solche, die nicht einfach nur nach ihrer Beute jagen, sondern Bakterien aktiv farmen. In einem Artikel in der Fachzeitschrift nature wurde 2011 beispielsweise die Amoebe Dictyostelium discoideum untersucht. Dabei konnte gezeigt werden, dass dieser zellulare Schleimpilz Bakterien teilweise einschließt, diese aber nicht verdaut, sondern wie eine Art Saatgut einlagert, um sie dann in nahrungsarmen Umgebungen freilassen zu können. Die dann wachsenden Bakterien können wiederum als Nahrungsquelle dienen.

Auch innerhalb der Gattung Chaos finden sich interessante Vertreter. Chaos carolinense, auch Riesenamöbe genannt, wird bis zu 5 Millimetern groß – genug, um mit bloßem Auge sichtbar zu sein. Manche Forschende vermuten, dass es sich bei ihr sogar um die Art handeln könnte, die Carl von Linné ursprünglich beschrieben hat – genau lässt sich das aber heute nicht mehr nachvollziehen.  Eine verwandte Art, Chaos illinoisense, wurde 1950 in Kultur genommen und galt später als ausgestorben, bis sie 18 Jahre danach in Nordrussland wiederentdeckt wurde. Die meisten Amöben leben übrigens in Süßwasservorkommen und für carolinense und illinoisense sind die Artnamen durchaus gute Hinweise darauf, wo diese Arten ursprünglich entdeckt wurden.

Ihr seht also Amöbe sind eine durchaus vielfältige Lebensform und gerade in Zeiten, in denen Wissenschaft noch nicht weltweit kommuniziert und Erkenntnisse geteilt werden konnten, ist dadurch teilweise großes Chaos – hier meine ich nicht die Amöbe – entstanden.

Im Jahre 1879 untersuchte auch der amerkanische Paläontologe Joseph Leidy eine Amöbe unter dem Mikroskop. Das mit den vielen Arten und noch mehr verschiedenen Namen erschien ihm allerdings reichlich kompliziert. Sein Vorschlag, um die ganze Geschichte zu vereinfach? Man solle doch alle „gewöhnlichen“ Frischwasseramöben einfach in einer Art zusammenfassen und diese Amoeba proteus nennen. Dieser Vorschlag setzte sich allerdings nicht durch – auch, weil die von Leidy untersuchte Amöbe wie sich später heraus stellte letztlich mehrkernig war und daher zur Gattung Chaos gehören dürfte. Das Chaos mit Chaos – oder Amoeba – zu bekämpfen war in diesem Fall also kein besonders hilfreicher Ansatz.

Heute gibt es deshalb viele verschiedene Mikrobenarten mit mit teils wechselhafter Namensgeschichte. Deshalb ist es auch nahezu unmöglich die historischen Nennungen und Beschreibungen von Amoeben den entsprechenden modernen Arten zuzuordnen. Fasizinierende Organismen sind sie dennoch allemal, auch wenn nicht alle davon nett und ungefährlich sind – aber das ist vielleicht ein Thema für eine andere Folge.

Ihr habt heute einen äußerst wandlungsfähigen Mikroorganismus kennengelernt, der als Typusart einer ganzen Gattung gilt, auch wenn seine moderne Identität leicht anders verstanden wird als zu Linnés Zeiten. Wenn ihr also das nächste Mal jemanden von Amöben sprechen hört – was sicherlich oft vorkommt – wisst ihr, dass es diese Lebensform in allen möglichen Bereichen des Lebens gibt und dass viele dieser Arten gar nicht miteinander verwandt sind, sondern sich unabhängig voneinander entwickelt haben – woraus durchaus großes Chaos in Beschreibung und Benennung der Amoeben entstanden ist. Was dann ja irgendwie doch zu sich ausbreitender Unordnung auf dem Schreibtisch passt. Vielleicht verschwendet ihr also das nächste Mal, wenn ihr Papierkram sortieren müsst, an die kleinen – oder teilweise vergleichsweise großen – amoeboiden Lebensformen, die so in unseren Teichen und Seen umherschwimmen.

Das wars für heute und mir bleibt nur noch eins zu sagen: vielen Dank fürs Lesen und bleibt neugierig!


Links & weitere Infos

·       Mikroskopische Aufnahme einer Amöbe, die ein Pantaffoltierchen (Paramecium) phagozytiert

https://www.youtube.com/watch?v=mv6Ehv06mXY

·       Erstbeschreibung von Chaos chaos durch Carl von Linné

Linnaeus, C. von (1758) „Systema Naturae per Regna Tria Naturae“. Holmiae: Laurentii Salvii.

·       Allgemeine Informationen über die Phylogenie, Klassifikation und Evolution von Amöben

Smirnov, A. V., Nassonova, E. S., Chao, E. und Cavalier-Smith, T. (2011) „Phylogeny, evolution, and classification of amoebae“, Protist, 162(3), S. 347–358. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1016/j.protis.2010.10.002.

·       Mechanismen der Bewegung und Nahrungsaufnahme

Grobecki, A. (1982) „Mechanisms of amoeboid movement“, International Review of Cytology, 75, S. 73–108. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1016/S0074-7696(08)61669-8.

·       Agrikulturelles Verhalten von Dictyostelium discoideum

Brock, D. A., Douglas, T. E., Queller, D. C. und Strassmann, J. E. (2011) „Primitive agriculture in a social amoeba“, Nature, 469, S. 393–396. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1038/nature09668.

·       Die Wiederentdeckung von Chaos illinoisense

Cohen, A. E. (1979) „The rediscovery of Chaos illinoisense“, Journal of Protozoology, 26(3), S. 384–386. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1111/j.1550-7408.1979.tb02746.x.

·       Jospeh Leidys Artikel zur Taxonomie von Amöben

Leidy, J. (1879) „Fresh-water Rhizopods of North America“. U.S. Geological Survey, Washington D.C.

·       Weiterführende Links zu Websites mit spannenden Infos und Bildern zu Amöben

https://arcella.nl/chaos/

http://www.william-hogarth.de/Amoebe.html

 

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