Serratia marcescens

Von blutenden Hostien und Wunderbaktieren

In der heutigen Folge unternehmen wir eine kleine Zeitreise. Wir schreiben das Jahr 1263 und begleiten den böhmischen Priester Peter von Prag auf seiner Pilgerreise entlang der Via Romea, einer bekannten Pilgerstraße zwischen Stade und Rom. Obwohl er ein zutiefst gläubiger Christ ist, zweifelt Peter der Erzählung nach an der sogenannten Transsubstantiationslehre, die durch das von Papst Innozenz III einberufene vierte Laterankonzil im Jahre 1215 erklärt wurde. Das Brot und der Wein sollen während des Abendmahls zum Leib und Blut Christi werden? Wohl kaum! Doch Peters Überzeugungen sollen schon bald auf den Kopf gestellt werden. Er kommt auf seiner Reise am kleinen Städtchen Bolsena vorbei und hält dort in der Kirche der heiligen Christina eine Messe ab. Es scheint eine normale Messe zu sein, doch als er während des Abendmahls das Brot bricht, traut er seinen Augen kaum. Die Hostie beginnt zu bluten.

Die blutrote Färbung breitet sich aus und tropft auf das unterliegende Tuch und den Altarstein. Wie kann das sein? Hat der Herr seine blasphemischen Gedanken gehört und ihm das Blut als Zeichen geschickt? Wie sonst lässt sich diese erschreckende Beobachtung erklären? Zunächst versucht der Priester, alles zu verbergen, doch lange gelingt es ihm nicht. Die Erzählung über seine Beobachtungen verbreitet sich wie ein Lauffeuer und wird als Blutwunder von Bolsena in die Geschichte eingehen. Doch dabei bleibt es nicht. Als Papst Urban IV, der zu jener Zeit im nahegelegenen Orvieto residiert, davon erfährt, beschließt er, das Altartuch und die Hostien nach Orvieto bringen zu lassen und ihnen dort einen Dom zu bauen. Auch heute ist dort noch das vermeintlich blutgetränkte Tuch in einer Seitenkapelle als Reliquie aufbewahrt. Zudem wird der Wesensverwandlung Christi in der Messe ein Feiertag gewidmet - ein Tag, der auch heute noch in vielen christlich geprägten Ländern als Fronleichnam begangen wird. Auch 300 Jahre nach dem vermeintlichen Wunder ist die Geschichte noch nicht vergessen und wird 1511 durch den italienischen Maler Raffael im Apostolischen Palast in Vatikanstadt als Messe von Bolsena in einem Gemälde festgehalten.

Na gut, aber was hat diese Geschichte denn jetzt hier im Podcast zu suchen?

Richtig geraten. Sie ist natürlich auf die Machenschaften eines Mikroorganismus zurückzuführen. In diesem Falle die des Bakteriums Serratia marcescens. Serratia marcescens ist ein ubiquitär vorkommendes Bakterium. Das bedeutet, es kann unter vielen Bedingungen und in den unterschiedlichsten Lebensräumen wachsen. So wurde es beispielsweise schon im Boden, im Wasser, auf Pflanzen und Tieren, aber auch im Abwasserschlamm von Kläranlagen gefunden. Dort arbeitet Serratia marcescens als sogenannter Saprobiont. Das bedeutet, dass es organische Substanzen zerkleinert und abbaut. Auch im heimischen Badezimmer kann sich Serratia marcescens ausbreiten und in Fugen, aber auch im auf den Zähnen vorkommenden Plaque für charakteristische Verfärbung sorgen. Verfärbung ist ein gutes Stichwort, wenn wir über Serratia marcescens sprechen. Der Grund, warum so ein Vorkommen überhaupt mit dem Auftreten von Blut verwechselt werden konnte, ist nämlich seine markante rote Farbe, die durch ein durch den Mikroorganismus produziertes Pigment zustande kommt. In Anlehnung an seine Beteiligung in der Entstehung von Wundererzählungen wurde dieser Farbstoff Prodigiosin genannt, wobei sich der Name vom lateinischen Begriff Prodigium, übersetzt Wunderzeichen ableiten lässt. Wenig überraschend war Peter von Prag nicht der einzige, der das Auftreten von Prodigiosin als Wunder interpretierte. Bereits zu Zeiten von Alexander dem Großen tauchte eine solche Erzählung auf.

So sollen während der Belagerung der Inselfeste von Tyros im Jahr 332 vor Christus Blutflecken auf dem Brot der Soldaten aufgetreten sein. Durch Alexander den Großen wurden sie seinerzeit als Glückszeichen gedeutet. Besonders häuften sich solche Blutwunder allerdings im 13. und 14. Jahrhundert. Woran liegt das denn nun? Hat sich Serratia marcescens zu diesem Zeitpunkt erst entwickelt oder vielleicht besonders aggressiv ausgebreitet?

Nein, das sind wohl eher nicht die Gründe. Stattdessen ist es wahrscheinlich auf die Zubereitung der Hostien zurückzuführen. Während lange Zeit Sauerteig für die Produktion der Hostien verwendet wurde, griff man im Laufe des 12. Jahrhunderts vermehrt auf ungesäuertes Brot zurück. Ohne den Konkurrenzdruck der im Sauerteig wachsenden Mikroben und die saure Umgebung fand Serratia marcescens auf den nun ungesäuerten Teig ideale Wachstumsbedingungen. Zudem gedeiht das Bakterium besonders in feuchtem Klima, wie es in vielen Sakristeien vorherrscht. Die Kirchen boten also perfekte Bedingungen für das Wachstum dieser Wunderbakterien. Mit ihrer Beobachtung ging natürlich auch eine Instrumentalisierung solcher Wunder durch die Kirchenoberhäupter einher. Als Beweis für das durch die Kirche erklärte Dogma der Transsubstantiation sollten sie beispielsweise den Glauben verstärken. Leider bringt uns das aber auch zu einem grausamen Teil der Geschichte. So wurden Hostienwunder gerade in dieser Zeit oft in eine Perspektive gerückt, in der sie als Vorwand für Antisemitismus dienten. Demnach hieß es, dass Juden die Hostien angestochen hätten, um sich über das Leiden Christi am Kreuz lustig zu machen und damit das Bluten ausgelöst hätten. Dass die vermeintlichen Spuren in Wahrheit ganz andere Ursachen hatten, konnte man allerdings erst viele Jahrhunderte später nachweisen.

Um das zu verstehen, müssen wir unsere kleine Zeitreise fortsetzen und ins Jahr 1819 eintauchen. Ein Bauer aus Padua wendet sich in großer Angst an den lokalen Abt Melo und schildert die Sorge, dass sein Haus von diabolischen Geistern besessen sei. Begründet werden seine Bedenken damit, dass seine Polenta mit Blutflecken übersät ist. Eine Tatsache, die nur ein Werk des Teufels sein kann. Das Phänomen tritt auch in anderen Häusern auf, deren Bewohnern daraufhin zahlreiche böse Taten nachgesagt werden. Die Woge des Schreckens ruft nun die lokale Polizei auf den Plan, die sich ob der eigenen Ratlosigkeit an eine Reihe von Universitätsprofessoren aus Padua wendet. Einer dieser Professoren ist der Pharmazeut, Bartolomeo Bizio. Mit für die damalige Zeit erstaunlich moderner wissenschaftlicher Vorgehensweise beginnt Bezio eine ganze Reihe von Experimenten. Er lagert Polenta unter unterschiedlichen Bedingungen und stellt fest: Die roten Blutflecken treten vor allem dann auf, wenn das Maismehl in einer warmen und feuchten Umgebung liegt. Zunächst vermutet er, er selbst könnte das Phänomen durch den Kontakt mit der verfärbten Polenta verbreitet haben. Um das auszuschließen, lässt er jemanden anderen die Versuche wiederholen - mit dem gleichen Ergebnis. Ein Jahr später nimmt er den Faden erneut auf, wieder mit denselben Beobachtungen. Schließlich untersucht er, wie frische Polenta in Kontakt mit der verfärbten Substanz infiziert werden kann und wie sich diese Ausbreitung verhindern lässt. Dabei kommt er zu dem Schluss: Hinter den roten Flecken steckt ein Lebewesen, vermutlich eine Art Pflanze oder Pilz. Bizio gibt dem Organismus schließlich einen Namen: Serratia zu Ehren von Serafino Serrati, einem italienischen Physiker, den Bizio für einen übersehenen Pionier der Dampfschifffahrt hielt. Der Beiname marcescens stammt vom lateinischen marcescere für Verwelken oder Erschlaffen - ein Hinweis darauf, dass die rote Substanz schon nach wenigen Stunden ihre kräftige Farbe verliert und zu einer Art schleimigen Belag zerfällt. All diese Beobachtungen hat Bizio übrigens selbst in einem Brief von 1819 festgehalten.

Bizios Arbeit entdeckte auch ein weiterer Mikrobiologe, Christian Gottfried Ehrenberg, das Bakterium auf gekochten Kartoffeln. Er gab ihm den Namen Monas prodigiosa. Übersetzen lässt sich das mit “Wunderbakterium”. Und das Wunder steckt nicht nur in diesem Namen, als einen der vielen die Serratia marcescens über die Jahre getragen hat, sondern auch in der Bezeichnung für das vorhin bereits erwähnte Prodigiosin, das für die charakteristische rote Farbe dieses Mikroorganismus verantwortlich ist. Daran, wie genau dieser Farbstoff produziert wird, wird auch heute noch aktiv geforscht. Neben Serratia marcescens wurden ähnliche Pigmente auch in manchen marinen Mikroorganismen entdeckt, wo sie dabei helfen können, Chloridionen über die Membran der Bakterien von der Umgebung ins Innere zu transportieren. Zudem zeigt Prodigiosin eine antimikrobielle Wirkung, kann also andere Mikroorganismen abtöten und konnte auch effektiv gegen Tumorzellen eingesetzt werden. Das dem Prodigiosin strukturell sehr ähnliche Obatoclax findet beispielsweise in der Krebstherapie Anwendung.

Jetzt habe ich schon ganz viel über Serratia marcescens erzählt und einen, für ein Bakterium, was vor allem auf Lebensmitteln aufzutreten scheint, besonders wichtigen Aspekt überhaupt nicht behandelt. Ist es denn für den Menschen gefährlich, wenn er mit von diesem Bakterium befallenen Lebensmitteln in Kontakt kommt?

Die kurze Antwort ist: Es kommt darauf an! Eigentlich ist Serratia marcescens für den Menschen vollkommen ungefährlich. Wie so oft ist es aber auch hier nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zu Zeiten des Kalten Krieges, genauer gesagt im September 1950, versprühten zwei U-Boote der US Marine Serratia marcescens vor der Küste von San Francisco. Ziel dieses als Operation Seaspray bekannten Tests war es, herauszufinden, wie sich das Bakterium verbreitet und wie anfällig San Francisco im Falle eines Biowaffenangriffs wäre. Tatsächlich könnte man dieses Experiment als gescheitert bezeichnen, jedoch mit einigen verheerenden Nebenwirkungen. Zwar erkrankten nur wenige gesunde Menschen nach dem Kontakt mit dem Mikroorganismus, allerdings konnte im Stanford Hospital ein Anstieg an Patienten mit seltenen Harnwegsinfektion und der Zahl an Lungenentzündung verzeichnet werden. Heute werden etwa zehn Krankheitsfälle und ein Todesfall direkt mit Operation Seaspray in Zusammenhang gebracht. Die meisten davon betrafen Patienten, deren Immunsystem bereits vor Kontakt mit Serratia marcescens geschwächt war.

Gefährlicher als für den Menschen ist Serratia marcescens allerdings für Steinkorallen, genauer die Elchgeweihkoralle Acropora plamata. In den vergangenen Jahren zeigte sich, dass das Bakterium für das Auftreten der sogenannten White Pox Krankheit verantwortlich sein kann, eine Erkrankung, die schließlich zum Absterben großer Teile der Korallenriffe führt. Ob Serratia marcescens diese Koralle über Fische und Seevögel oder eventuell durch den Eintrag von menschlichen Abwässern in den Ozean erreicht, ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Sicher aber ist: Es ist ein weiterer Grund, genau darauf zu achten, was wir in unsere Meere gelangen lassen. Und damit schließt sich der Kreis. Heute habt ihr erfahren, wie ein kleines Bakterium über Jahrhunderte hinweg Mythen, aber auch spannende Forschungsgeschichte geprägt hat und wie es bis heute wirkt.

Vom roten Fleck auf einer Polenta in Italien bis hin zu den Korallenriffen in der Karibik; vom Jahre 1263 bis in die heutige Zeit. Das ist schon eine ziemlich beeindruckende Reise. Vielleicht bleibt euch die Geschichte von Serratia marcescens im Kopf - ein Bakterium, das so klein und unscheinbar wirkt und doch die Macht hat, Mythen zu erschaffen, Forschung voranzutreiben und uns bis heute zum Staunen zu bringen. Damit sind wir am Ende dieser Folge angekommen und mir bleibt nur noch eins zu sagen: Vielen Dank fürs Lesen und bleibt neugierig!

Links & weitere Infos

Das Blutwunder von Bolsena und Serratia marcescens
https://mikrobenzirkus.com/tag/blutwunder-von-bolsena/
https://www.museivaticani.va/content/museivaticani/de/collezioni/musei/stanze-di-raffaello/stanza-di-eliodoro/messa-di-bolsena.html

Serratia marcescens als Krankheitserreger & Operation Seaspray
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3194826/

Gemälde „Messe von Bolsena“ im apostolischen Palast, Vatikanstadt
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raphael_-_The_Mass_at_Bolsena.jpg

Historisches Dokument, Brief von Bartolomeo Bizio zur Entdeckung von Serratia marcescens
https://journals.asm.org/doi/pdf/10.1128/jb.9.6.527-543.1924

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Streptomyces coelicolor